Theaterkritik

Die Bestialität der Konversation im Theaterforum Lünen: Wolfram Lenssen inszeniert "Quartett" von Heiner Müller

Wer sich an diesem Sonntag abend unter das Lünener Premierenpublikum mischt, hat bereits zu Beginn der Aufführung, während der einleitenden Worte einer Art Conferencieuse (Sabine Doetsch) im Theatervorraum, Grund zur Erwärmung. Es ist quälend heiß. Dankbarkeit und Sympathie treten auf, als die energische Conferencieuse, die offensichtlich eine vermittelnde Funktion zwischen Theaterstück und Publikum auszufüllen hat, befiehlt, ausliegende Forum-Papers fächerartig Verwendung finden zu lassen. Und alle gehorchen devot.

Nun unterbreitet die Dame, in Jeans, Frack und Zylinder auf einer improvisierten Bühne stehend, dem Publikum, was es in den nächsten zwei Stunden zu erwarten hätte. Sie verliest zu diesem Zweck den letzten Brief einer gewissen Madame de Tourvel, die voller Leid von einem "sicheren und nahen Tod" für sich berichtet. Ein nachgeschobener Hinweis gibt Aufschluß über die Herkunft des Briefes: Er ist dem 1782 anonym veröffentlichten Briefroman "Gefährliche Liebschaften" (Les liaisons dangereuses) von Choderlos de Laclos entnommen.

Wer jetzt noch keinen Schimmer hat, worum es im folgenden gehen soll, ist entlarvt und mit der unangenehmen Vorstellung einer binnen kurzem nur mühevoll zu schließenden Bildungslücke konfrontiert - so wie ich. In jedem Fall ist die thematische Ausrichtung klar, auch für diejenigen, die mit dem Begriff Quartett bislang eher ein Kartenspiel als eine Liebe-Triebe-Geschichte in Verbindung gebracht haben. Fakt ist, daß Heiner Müller die zweihundert Jahre alte Story als literarische Vorlage für sein "Quartett" genutzt hat, Jahre bevor Stephen Frears und Milos Forman den schmackhaft-frivolen Urstoff de Laclos' filmisch aufbereitet und realisiert haben. Doch, worum geht es eigentlich in der Vorlage, und was hat Heiner Müller daraus gemacht?

Im Briefroman spinnt die kühle, machtgierige Marquise de Merteuil Fäden der Liebe zwischen verschiedenen Personen, die in ihrer Hand verhängnisvoll zusammenlaufen. Diktatorisch, das Schicksal spielend, läßt sie die ‚Puppen' tanzen, sich lieben, verletzen, zerstören. Ihr Handlanger und ehemaliger Liebhaber, Vicomte de Valmont, verspinnt sich ebenfalls tödlich im Gespinst ihrer Intrigen. Machtstreben und Vernichtungswille der Marquise ufern so aus, daß sie am Ende ein Opfer ihrer selbst wird. Um sich an dem Comte de Gercourt zu rächen, der sie einst versetzte, beauftragt sie Valmont, die zukünftige Braut Gercourts, die Jungfrau Cécile de Volanges zu verführen. Trotzdem sie ein leichtes Spiel für den geübten Valmont ist, hat der ein Auge auf die fromme, zudem verheiratete Präsidentin de Tourvel geworfen und verführt diese ebenfalls. Die Marquise fühlt sich betrogen, intrigiert, setzt damit Valmont einem Duell aus, in dem er zu Tode kommt. Tod und Zerstörung greifen weiter um sich: Die Tourvel stirbt in geistiger Verwirrung, die kleine Cécile geht ins Kloster, die Marquise verliert Vermögen und Schönheit. De Laclos' Demaskierung des moralischen Scheins der besseren Pariser Gesellschaft des Ancien Régimes ist perfekt.

Heiner Müllers "Quartett" behält im wesentlichen die inhaltlichen Aussagen und Verstrickungen bei. Der Kreis der Figuren ist drastisch reduziert auf die Merteuil und den Valmont, die nun in einer gewaltigen Konversationsschlacht den Machtkampf, der gleichzeitig ein Kampf der Geschlechter ist, unter sich auszumachen. Sie spielen ein grausames Spiel, indem sie ihre Geschlechterrollen tauschen und den permanenten Kriegszustand zwischen den Geschlechtern in Form einer "Schauspielkunst der Bestien" präsent machen. Es stehen sich zwei Rationalisten gegenüber, die Gefühle nur zulassen, wenn sie als Mittel zur Machterlangung dienlich sind. So kommt es zu einem unablässigen Wechsel der Macht über den jeweils anderen, wobei die unterlegene Rolle bei Müller meist durch eine Frau ausgefüllt wird, heiße sie nun Tourvel oder Volange. Allein die Merteuil erweist sich Valmont als ebenbürtig durch ihren Stolz, ihr Kalkül und im besonderen durch den hohen Grad ihrer Unmoral. Zweideutiges Vokabular und frivole Metaphern ziehen sich durch den gesamten Text: "Raum ist in der kleinsten Hütte." (Valmont zu Volange, dargestellt von der Merteuil); vergleichbar schwarzer Humor: "... aber die Tourvel. Ich gebe zu, sie ist ein mächtiges Stück Fleisch, aber geteilt mit einem Gatten, der sich darin festgebissen hat ... was bleibt für sie, Valmont. Ein Bodensatz. Wollen sie ernstlich in dem trüben Rest herumstochern." (Merteuil zu Valmont).

Äußere Einflüsse scheinen Müllers Figuren zu determinieren. So erkennt die Merteuil "ein Bewußtsein (zu) haben und keine Gewalt über die Materie". Menschliche Gebundenheit an Zeit und Raum, Tod und Vergänglichkeit als ständig präsente Gesprächsthemen machen das Stück zu einem, in der Sprache der Pornographie verfaßten, philosophischen Diskurs. Allerdings liegt in der Sprache auch die Gefahr einer Verdeckung der philosophischen Intention begründet. Die Behandlung existentieller Themen droht unter dem Lachsalven garantierenden, drastischen Metapher-Feuerwerk zu ersticken. Deshalb ist dem Zuschauer erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit geboten, nicht zum akustischen Voyeur zu werden.

Wolfram Lenssen trägt der Zeitlosigkeit der philosophischen Themen sowie dem immerwährenden Geschlechterkrieg insofern Rechnung, als er in seiner "Quartett"-Inszenierung auf vielfache Weise für einer Mischung der Zeitebenen sorgt: Kostüme (vom Gehrock/ Kleid des 18. Jahrhunderts bis zu schwarzem Punk-Outfit), Bühnenbild (vom gemütlichen Schauplatz vor dem roten Vorhang bis zum in die Tiefe gehenden, schwarzen Raum), Musik (vom lockeren, barocken Pianogeklimper bis zu Nina-Hagen-Gekreische plus E-Gitarren-Verstärkung) und Tänze (von der Gavotte über Tango bis hin zu Disko-Gesteppe) ziehen sich in ihrer Verschiedenartigkeit und Entwicklungsstufen markierend wie rote Fäden durch die Jahrhunderte. Selbst der Einsatz der spärlichen Requisite auf symbolträchtige Weise überzeugt. Wenn zum Beispiel Valmont zu einer, der am Bühnenrand aufgereihten Kerzenschutzkappen greift, um sie sich als Bischofsmütze aufzusetzen. Und wenn die Merteuil gleiches tut und anschließend mit Nonnenhaube als Volange vor dem Bischof Valmont auf die Knie fällt, um zu erfahren, "wo Gott wohnt", dann hat die Idee über die Spärlichkeit der (finanziellen) Mittel gesiegt und man kann von einer adäquaten gestalterischen Umsetzung der dramatischen Vorlage sprechen. Ebenso gut die Choreographie: Trotz Kammerspiel-Atmosphäre kein langweiliges Sprechtheater. Die "Bestialität der Konversation" findet auf der Bühne ihr Pendant in der Bestialität der Aktion, im gewalttätigen Umgang der Figuren miteinander. Von den Schauspielern ist körperliche Höchstleistung gefordert, besonders von Katy Karrenbauer, die die Kaltschnäuzigkeit der Merteuil und die Unmoral des Valmont süffisant lächelnd, mit Bravour verkörpert. Auf einer wilden Verfolgunsjagd wird sie von Valmont über die Bühne gehetzt, während einer Tanzsequenz schultert sie als Valmont die von Valmont dargestellte Tourvel, spricht dazu noch Text und schleudert ihn/sie an die Wand. Unnachahmlich: ihre gesangliche Interpretation von Nina Hagens "Auf'm Friedhof". In nichts steht ihr Andreas Ramstein nach, der als Valmont köstlich und elegant Koketterie und Eitelkeit überzeugend an den Tag legt, aber auch die tragischen Elemente beherrscht.

Insgesamt eine sehenswerte Aufführung mit familiärem Charakter - schlicht gelungenstes Kammerspiel.

© Birgit Wisniewski



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